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Wieviel Psychologie braucht Digitalisierung?

Digitalisierung kennzeichnet einen Zeitenwandel, der für viele Menschen abrupt kommt. Das stellt frühere Einstellungen und Gewohnheiten in Frage. Dagegen wehrt sich unser Gehirn, das sich gerne die Veränderungsarbeit erspart. So entstehen in allen Organisationen die Widerstände gegen das Umlernen. Mit diesen Widerständen so umzugehen, dass sie kürzer dauern und in der Folge zu konstruktiver Neugier führen, braucht tiefgreifende psychologische Kompetenz – und stellt in dieser Zeit, neben der Frage nach der Neuausrichtung der Strategie, die Hauptaufgabe von Führung dar.

Das bringt sofort die Frage auf, wie Führung in einer Situation wirksam und effektiv gelingen kann, die zunehmend von dezentraler Arbeit geprägt ist. Home- und Hybrid-Office ist bei vielen Unternehmen ein notwendiges Konzept geworden – nicht nur, um Arbeitsfähigkeit herzustellen, sondern auch, um Mitarbeiter*innen an das Unternehmen zu binden.

„Distant Leading“, also Führungswirken auf Distanz, erfordert ganz spezielle Fähigkeiten der Kommunikation und Wahrnehmungsfähigkeit. Hier sind neben einer qualitativ hochwertigen Technologie die psychologischen Feinheiten von Erkennen und adäquatem Handeln gefragt. Wie erkennt man im Onlinemeeting, dass eine Botschaft ankommt, verstanden und behalten wird oder Widerstand erzeugt? Hier helfen Werkzeuge wie z.B. Kompetenz im Erkennen von Microexpressions, hochwertige technologische Ausstattung (z.B. zum Halten des Blickkontakts) und aufmerksames Einsetzen der eigenen Wirkung.

„Die stärkste Bindekraft in Unternehmen – Gruppendynamik“

Dasselbe gilt für die Neuausrichtung der Organisationsstrukturen. Selbstorganisation und Projektstrukturen führen zu rasch wechselnden Zugehörigkeiten der Mitarbeiter*innen in Projektgruppen. Hier besteht die große Herausforderung, die stärkste Bindekraft in Unternehmen, Gruppendynamik, aktiv zu fördern – die Installation einer „Stammgruppe“ in dezentrale Projektgruppen ist dabei nur eine dieser vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten.

Verstärkt wird diese Notwendigkeit insbesondere durch steigenden Anteil virtueller Zusammenarbeit: Was entsteht durch hybride Arbeit in der Gruppe? Wie lässt sich Teamarbeit im Homeoffice leben? Wie verhindert man eine Spaltungsdynamik zwischen den Präsenz- und Distanzmitarbeitern? Wie löst man Konflikte aus Neid oder Ängsten? Für all diese Fragen gilt eine zentrale Faustregel: Das Reden darüber kann man sich nicht ersparen – denn die Kosten der Ersparnis sind immer höher als die Ersparnis.

Gerade (aber nicht nur) durch Home-Office zeigen sich belastende Stressfolgen der Digitalisierung. Sie resultieren aus Informationsüberflutung, aus gleichzeitig zu lösenden Problemen, aus Unsicherheit im Umgang mit EDV und Technologie. Nicht zuletzt auch aus Mangel an Selbstabgrenzung, die auch aus Spaß am Neuen entstehen kann. Nicht wenigen, hoch engagierten jungen Mitarbeitern droht daher jetzt schon das Burnout. Wer Burnout hatte, weiß wie entsetzlich sich das auswirkt.

„Wo Menschen zusammenarbeiten, gilt die Psycho-Logik des Unbewussten.“

Daher ist die Gestaltung der Arbeit und der Leistungs- und Erholungsrhythmen zentrale Aufgabe verantwortungsvoller Unternehmensführung. Die physische und psychische Gesundheit der Mitarbeiter braucht eine Arbeitslebenswelt, die spannend und lebendig ist. Chronobiopsychologie zur Strukturierung der Rekreationspausen und Neurophysiologie zum Design von Arbeitsbedingungen werden unverzichtbar werden – und damit auch ein wesentlicher Bestandteil von Employer Branding.

Wo Menschen zusammenarbeiten, gilt die Psycho-Logik des Unbewussten. Sie zu lesen und zu verstehen, erfordert fundierte Ausbildung. Die Rezepte aus simplen Alltagsplausibilitäten und ideologischer Eindimensionalität sind, nüchtern betrachtet, schon jetzt in hohem Ausmaß schädlich. Unternehmensführende müssen ihre Mitarbeiter davor schützen, indem sie erkennen, was wirklich psycho-logisch wirksam ist.

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